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NOSCH
Poetische Systeme 4 10
Viertens. Ich meine mich
"Wenn Sie mich fragen, was ich so tue, kann ich nur sagen, ich lebe poetisch."
Wem ist es aufgefallen, dass alle Aussagen der Text-Arbeit, die hinter mir hängt, mit "Ich" beginnen könnten? Also: Ich will fort, Ich bin dort, Ich will zurück, Ich bin da.
Poesie ist subjektiv, egozentrisch, ja egomanisch. Sie ist von der ganz eigenen Wahrnehmung und besonderen Warte eines Einzelnen bestimmt. Diese Behauptung möchte ich einfach so stehen lassen, sie ist wichtig. Zu diesem Phänomen habe ich für eine Ausstellung Mitte der 90er Jahre ein kleines Wortspiel geschaffen: WICHT-ICH
Fünftens. Mein Lieblingsbuch
Hier sehen Sie ein Buch, das in einer Phase meines Studiums mein Lieblingsbuch war. Es ist von dem Philosophen Hans Georg Gadamer, genauer war es ein Vortrag von ihm mit dem Titel: Kunst als Spiel, Symbol und Fest (als Buch: Die Aktualität des Schönen, Reclam)
Darin ist auf wohltuend altmodische Weise das Wesen von Kunst beschrieben.
Ich habe das Buch zweimal, halte mit der rechten und der linken Hand je eines in die Höhe.
"Dieses Buch habe ich gelesen." "Dieses Buch habe ich nicht gelesen."
Die Idee zu dieser kleinen Vorführung oder Performance ist nicht von mir. Sie geht auf den Künstler Timm Ulrichs zurück. Aber sie passt mir gut ins Konzept, denn sie weist auf das Dingliche selbst im Fall solch geistiger Prozesse wie dem Lesen oder der Wahrnehmung.
Sechstens. Das Wort als Symbol
Aus meinem bereits Gelesenen lese ich etwas zur Herkunft des Symbols von Hans Georg Gadamer:
"Was heißt Symbol? Es ist zunächst ein technisches Wort der griechischen Sprache und meint die Erinnerungsscherbe. Ein Gastgeber gibt seinem Gast die sogenannte "tessera hospitalis", das heißt er bricht eine Scherbe durch, behält die eine Hälfte selber und gibt die andere dem Gastfreund, damit, wenn in dreißig oder fünfzig Jahren ein Nachkomme dieses Gastfreundes einmal wieder ins Haus kommt, man einander beim Zusammenfügen der Scherben zu einem Ganzen erkennt. Antikes Passwesen: das ist der ursprüngliche technische Sinn von Symbol. Es ist etwas, woran man jemanden als Altbekannten erkennt."
Gadamers Text beschreibt im Weiteren den alten griechischen Mythos, nach dem die Menschen Kugelwesen waren und von den Göttern zur Strafe auseinandergeschnitten wurden. Nun sucht jede dieser Hälften ihre Ergänzung. Ein bekanntes Gleichnis für Liebe und Wahlverwandtschaft, das von Gadamer ganz wunderbar auf die Begegnung eines Menschen mit Kunst übertragen wurde.
Siebtens. Die Überfrachtung
Auf irgendeiner Tagung fordert jemand ein "an der Schöpfung ausgerichtetes Denken". Was immer damit gesagt werden soll, es spannt sich den Kredit des schier allmächtigen Wortes "Schöpfung" vor den Karren. Wie wenig weit das trägt, wie leicht unsere Übereinkunft, dass ein Wort einen Inhalt transportiert, gebrochen werden kann, soll ein einfacher Versuch vorführen. Entnommen ist dieses Beispiel dem Kapitel "Die Herrschaft der Phrase" aus "Variationen" von Albrecht Fabri.
Ich werde das Wort zehnmal wiederholen: Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung, Schöpfung.
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Achtens. Vom Verhältnis der Worte
"Fang war das Wort im an." Kommt Ihnen das bekannt vor? Ist es ein Zitat? Das Zitat ist da und doch nicht da. Hier wird auf einen großen Satz Bezug genommen, ohne ihn direkt zu zitieren ein Spiel mit einem der bedeutendsten Sätze unserer Kultur bedeutend, unabhängig davon, ob wir gläubig sind oder nicht.
Außerdem bezieht sich dieser Satz "Fang war das Wort im an." auf Timm Ulrichs, der den äußerst konkreten Satz formulierte: "Am Anfang war das Wort am."
Für jeden der drei Sätze mache ich eine Nadel an die Wand und bringe diese mit Bindfaden in eine Beziehung. Und ich behaupte, dass durch solche Bezüge Assoziationsräume aufgehen, die haltbarer sind als der auf den ersten Blick bedeutende Gehalt von großen Worten wie zum Beispiel "Kreativität" oder "Schöpfung".
Neuntens. Der Weg im Kopf
Gehören Sie zu den Leuten, die eine gute Idee, um sie nicht zu vergessen, sofort aufschreiben und sie dann vergessen?
Oder gehören Sie zu den Leuten, die eine Idee im Kopf weiterstricken, fasziniert den Verästelungen ihres genialen Einfalls folgen, also ohne viel zu denken, ohne viel zu lenken ihren Gedanken nachhängen und dabei die ursprüngliche Idee vergessen?
Vermutlich macht beides kaum einen Unterschied, denn das eigentlich Wichtige ist in beiden Fällen die Wiederaufnahme des Gedankens innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes. Im ersten Fall muss man den Aufschrieb wiederfinden, um sich von der guten Idee wieder auf den Weg bringen zu lassen. Im zweiten Fall kann man sich nach Stand der Neurologie darauf verlassen, dass man beim willenlosen Streifen durch den Kopf den unlängst begangenen Pfad man stelle sich ein aktives Aktionsmuster vor wiederfinden und erneut beschreiten kann. Und sehr wahrscheinlich kann man davon ausgehen: Ein jeder Weg, den man im Kopf nimmt, kann zum Trampelpfad werden oder versanden.
Zehntens. Die Erfahrung von Welt
Die Erfahrung ein hübsches Wort, um den Kreis zu schließen. Er-fahrung, das ist als ob einer durch die Welt fahren würde, sie dabei erfährt und wahrnimmt. Dazu habe ich etwas Schönes bei Albrecht Fabri gefunden: "Für den Schriftsteller selbst ist die (ganze) Welt Syntax (Satzbau). Er untersucht und erforscht die Welt in den Strukturen seiner Sätze. Indem für sie (die Welt) Sprache entsteht, entsteht sie selbst. (...) Das Wort verhält sich zur Welt nicht als Etikett, sondern die Welt zum Wort als Antwort." Die Welt als Ant-Wort.
Günter Nosch Text einer performativen Lesung am 2. 6. 2013 im Kunstraum Bogenhausen
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