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RENÉ ZECHLIN, Direktor des Wilhelm-Hack-Museums

Einführung zu Poetische Systeme in der Galerie Marianne Heller, Heidelberg, 10. März 2024

»Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür. Nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres lässt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.«

Erst einmal guten Morgen und herzlich willkommen zur Ausstellung "Poetische Systeme" von und mit Emmanuel Boos und Günter Nosch!

Aber was hat dieser kurze Ausschnitt aus Franz Kafkas "Die Sorge des Hausvaters" mit der Ausstellung zu tun?

Der kurze Text – ich habe nur einen Ausschnitt zitiert – ist für mich eine wunderbare Metapher der Wahrnehmung, sowie des Sinns des Lebens und der Kunst. In nüchterner Genauigkeit beschreibt Kafka ein Objekt, das eher zufällig entstanden zu sein scheint. Die besondere Aufmerksamkeit, die Kafka dem unbestimmten Etwas zukommen lässt, betont er in dem er das Etwas beim Namen nennt. Mit der Benennung erhebt Kafka das Ding auf die gleiche Ebene wie alle lebenden Wesen und gibt dem sinnfreien Etwas überhaupt erst eine Existenz- und Daseinsberechtigung. Dem nicht genug, erlangt das Etwas bei Kafka schrittweise ein Eigenleben!

Jetzt aber zu der Ausstellung:
Wir haben hier zwei unterschiedliche Künstler. Auf der einen Seite Günter Nosch, der aus dem Medium der Malerei kommt und auf der anderen Seite Emmanuel Boos, der mit dem Medium der Keramik arbeitet. So unterschiedlich beide Werke auf den ersten Blick wirken – das eine zweidimensionale Malerei, das andere dreidimensionale Objekte, haben doch beide einen ähnlichen Ansatz mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen.

Es ist ein Dialog aus Konzept und Prozess, den beide Werke bestimmt. Günter Nosch begreift seine Arbeit als poetische Systeme, die auch den Titel der Ausstellung bilden und sehr zutreffend das Zusammenspiel aus Konzept, Prozess und Zufall beschreiben. Die schwarz-weiße Malerei von 2004 ist seine früheste Arbeit in der Ausstellung und gehört zu den "No Landscapes" wie auch die deutlich späteren, farbigen daneben. Günter Nosch malt nicht. Er verwendet keinen Pinsel, er versucht nicht etwas darzustellen oder seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Er trägt Farbe auf die Leinwand auf. Mit einem Rakel zieht er langsam die Farbe von links nach rechts über das Bild, mal viel und tief gesättigt, mal dünn und mit fast trockenem Rakel. "Farbe schreiben" nennt er das. "Lesen" tun dann wir, die Betrachter. Wir assoziieren Landschaften, wo doch nur Farbe ist, wie Kafka ein Wesen assoziiert, wo doch nur eine Spule ist. "Farbe schreiben" ist ein äußerst kontrollierter Prozess, dessen Ergebnis aber damit nicht vorbestimmt, sondern offen ist. Eine Versuchsanordnung, ein System für visuelle Poesie.

An dieser Stelle einmal zu Emmanuel Boos, der in den letzten Jahren seine Formensprache extrem reduziert hat und damit jegliche Assoziationen der Keramik als "angewandte" Kunst abstreift. Mit der Reduktion auf die Form des Ziegelsteins, auf die fast alle Arbeiten in der Ausstellung zurückgehen, bezieht sich Emmanuel Boos auf die Urform menschlichen Handwerks überhaupt: Gebrannte rechteckige Formen aus Lehm wurden bereits tausende Jahre vor Christus als Baumaterial verwendet. Bis heute ist der gebrannte Ziegelstein als Baumaterial geläufig, wenn auch leider nicht mehr so häufig. Die Reduktion auf eine sich wiederholende Form, mit der sich Emmanuel Boos bewusst auch in die Nähe der Minimal Art eines Carl André oder Donald Judd bringt, führt er gleichzeitig wieder ad absurdum. Die ungebrannten Steine lässt er aufeinander fallen, sich zufällig verformen, miteinander verkeilen. Das doch so schlichte, praktische Objekt bekommt ein Eigenleben. Ebenso ein Dialog aus Konzept und Prozess, kontrollierter Versuchsanordnung und unkontrollierter Formgebung.

Bei Emmanuel Boos setzt sich der Dialog aus Konzept und Prozess nochmals in der Glasur fort. Durch die Glasur macht Emmanuel Boos aus dem groben Baumaterial des Ziegelsteins ein einzigartiges Kleinod. Aus dem Ziegelstein wird ein Edelstein.
Jede Glasur ist von ihm selbstproduziert, jede Glasur jedes Steines ist anders. In einer kleinen Edition zu der zentralen Arbeit "Spine" in der Mitte des Ausstellungsraumes, legt er die Rezeptur jedes einzelnen Steines offen. Jede ist in der Zusammensetzung einzigartig. Und trotz Rezeptur bestimmen so viele Faktoren die finale Erscheinungsweise, dass sie selbst für Boos kaum zu wiederholen ist. Emmanuel Boos Werke zeichnen sich durch ein irritierend-faszinierendes Wechselspiel aus handwerklicher Präzision und Hochwertigkeit der Oberflächenbehandlung, bei gleichzeitiger Schlichtheit und selbstironischer Form.
Auch Günter Nosch hat sich in seinen neusten Arbeiten äußerst reduziert. Die Gruppe unter dem Titel "Appointed Green" – Verabredetes Grün – zu der die Hinterglasmalereien hier im Raum, als auch die Papierarbeit am Eingang gehören, basieren jeweils auf drei horizontalen, leicht geschwungenen Linien. Von diesen Horizontalen zieht er wiederum mit einem Spatel ebenso geschwungene Vertikale. Ein Zug, eine Form, kein Nacharbeiten, kein Überarbeiten, kein Überlagern. Eine Geste, wie eine Meditation. In der poetischen Reduktion bündelt sich der Moment der Ausführung und schafft eine konzentrierte Komposition. Günter Nosch beschreibt die Vorgehensweise sehr treffend als Handlungsvorgaben, die er sich selbst stellt in deren Rahmen die Komposition zur Ausführung kommt. Wie eine Choreographie, die vorgegeben, in der Ausführung aber individuell ist.

In der schwarz-weißen Tusche-Serie auf Papier verbindet sich die malerische Herangehensweise der frühen Arbeiten, der No Landscapes, über die ich anfänglich gesprochen habe, mit der konzentrierten Herangehensweise der "Appointed Greens". Ganz reduziert wird die Tusche waagerecht auf das grundierte Papier aufgetragen. Die schwarzen Farbspuren erscheinen rhythmisch, kalligraphisch, wie ein Notensystem. Andererseits assoziiert man Landschaften, Küstenlinien: Eine Partitur einer unbekannten Welt.

"Musik für Einstein" ist auch der Titel der Werkgruppe, der die Entdeckung des Unbekannten gleich in verschiedene Assoziationsrichtungen öffnet. Das führt auch noch einmal zurück zu der Serie der "Appointed Green", der Arbeit an dem Pfeiler in der Mitte des Raumes, die zwar technisch wie die vorher beschriebenen hinter Glas entstanden ist, ästhetisch aber vielmehr wie "Musik für Einstein" auf fremde Schriftzeichen verweist. "Dinge lesen" ist der bezeichnende Titel, der das Einlassen auf die Fremdheit des Anderen sehr gut zum Ausdruck bringt. "Dinge lesen" macht ja auch Kafka, indem er in seinem kurzen Text versucht, ein Objekt als Wesen zu lesen.

Und da muss ich nochmal auf Emmanuel Boos zurückkommen. Wie Kafka haben Emmanuel Boos‘ Arbeiten oft so einen versteckten, trockenen Humor. Hinter der ernsthaften Oberfläche der hochwertigen Glasur blitzt ein selbstironisch spielerisches Element hervor, wenn die im Grunde banalen oder zumindest alltäglichen Formen der Ziegel- oder Pflastersteine sich stapeln und verformen wie die One-Minute-Sculptures von Erwin Wurm. Apropos One-Minute-Sculptures: Die einzelnen Elemente der Objekte, also die einzelnen Ziegel- oder Pflastersteine, sind nicht miteinander verbunden, sondern balancieren tatsächlich aufeinander, miteinander und halten sich gegenseitig. Dieses spielerische Element erklärt auch Boos‘ Referenz an die brasilianische Künstlerin Lygia Clark, mit der rot-weißen Arbeit hinten an der Wand. Lygia Clark entwickelte in den 1950er/60er Jahren in Brasilien mit der Gruppe "Neoconcretismo" eine partizipative Form der geometrischen Abstraktion: Einfache geometrische Formen sollten mittels Scharnieren durch die Betrachter beliebig umgestaltet werden können. "Bichos" nannte Lygia Clark diese Werkgruppe: "Kreaturen" oder "Ungeziefer".

Und damit kommen wir wieder zu Kafka:
»Näheres lässt sich darüber nicht sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist. … "Wie heißt Du denn?" fragt man ihn. "Odradek" sagt er. "Und wo wohnst Du?" "Unbestimmter Wohnsitz" sagt er und lacht. … Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.«

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!





René Zechlin Einführung zu Poetische Systeme in der
Galerie Marianne Heller, Heidelberg, 10. März 2024

> Dr. Tobias Güthner Einführung Ausstellung Nosch am 8.7.2023

> Rasmus Kleine zur Ausstellung »Dinge lesen« am 15.07.2023

> Maresa Bucher Choreographie der Farbe

> Nosch – Poetische Systeme 1 – 3
Günter Nosch – Text einer performativen Lesung am 2. 6. 2013 im Kunstraum Bogenhausen

> weiterlesen: Nosch – Poetische Systeme 4 – 10

> Zdenek Primus Im Staub des Ateliers gefunden:
Kunststücke; 2015

> Dr. Ilona Víchová The Process is the Message
in the catalog to the exhibition »Nosch—paintings and works on paper«, brno–gallery; 2011

> Dr. Frank Schmidt Nosch – Transparenz der Farbe
im Katalog »Szenenwechsel 2003/04«
Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt

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